Wer erhält Sprachförderung?

Kinder mit einem hohen pädagogischen Förderbedarf im Bereich Sprache haben häufig eine sog. spezifische Sprachentwicklungsstörung (SSES). Darunter wird eine Sprachentwicklungsauffälligkeit verstanden, bei der die Kinder sehr spät anfangen zu sprechen und meist erst im Alter von zwei oder drei Jahren die ersten Wörter sagen. Zu diesem Zeitpunkt sprechen normal entwickelte Kinder bereits mehrere hundert Wörter und verwenden kurze Sätze. Den Kindern mit einer SSES gelingt es oft nicht, diesen Rückstand aufzuholen, die Sprachentwicklung bleibt verzögert und inkonsistent (Grimm, 2003; Kannengieser, 2012; von Suchodoletz, 2008).

Auch auf die anderen Bereiche der Sprache, wie die Aussprache, die Grammatik und das Sprachverständnis, hat dieser späte Wortschatzerwerb ungünstige Auswirkungen, wobei die betroffenen Kinder durchschnittliche kognitive Fähigkeiten aufweisen (Dannenbauer, 1989, 2001a, 2001b, 2002).

Die WHO definiert umschriebene Störungen des Sprechens und der Sprache durch Ausschlusskriterien (Dilling, Mombour & Schmidt, 2011). Es sind Kinder betroffen, bei denen die Ursache für ihre Sprachstörung nicht im Bereich der Wahrnehmung liegt (z. B. gehörlose oder blinde Kinder), die keine Störungen in der zentralen Informationsverarbeitung haben, die nicht in den nonverbalen kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt sind und die keine auffälligen emotionalen Störungen oder Probleme in den zwischenmenschlichen Beziehungen (z. B. eine schwere Verhaltensstörung) erkennen lassen (Fromm, Schöler & Scherer, 1998; Häring, Schakib-Ekbatan & Schöler, 1997).

Wie viele Kinder haben Schwierigkeiten beim Spracherwerb?

Entwicklungsstörungen im Bereich der Sprache gehören zu den häufigsten Entwicklungsrisiken im Kindesalter (Tomblin, Smith & Zhang, 1997). In der Fachliteratur finden sich Prävalenzangaben zwischen 2 und 30 % (von Suchodoletz, 2008). Im Bereich der Schule wird von einer Prävalenz von 5 bis 8 % ausgegangen (Dilling, Mombour & Schmidt, 2011). Kohn, Wyschkon, Ballaschk, Ihle und Esser (2013) untersuchten die Stabilität umschriebener Sprachentwicklungsstörungen in einem Zeitraum von durchschnittlich 2 ½ Jahren während der Grundschulzeit und ermittelten Besserungsraten von 46,2 %. Trotz dieser günstigen Prognose werden bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen sehr häufig komorbid auftretende Probleme berichtet. Etwa 50 % der Betroffenen zeigen psychische Auffälligkeiten (von Suchodoletz, 2013). Die häufigsten komorbiden Diagnosen stellen Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens und emotionale Störungen dar, wobei Jungen vorwiegend als unruhig und oppositionell-aggressiv und Mädchen als sozial zurückgezogen beschrieben werden (Tomblin, Zhang, Buckwalter & Catts, 2000; von Suchodoletz, 2003). Darüber hinaus stehen Defizite im Lautspracherwerb in enger Beziehung mit Schwierigkeiten in der schriftsprachlichen Entwicklung. Nach einer Untersuchung von Weindrich, Jennen-Steinmetz, Laucht, Esser & Schmidt (2000) sind ca. 50 % der Kinder mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen von einer Lese-Rechtschreibproblematik betroffen. Kohn et al. (2013) geben ein gemeinsames Auftreten von Lese-Rechtschreibstörungen bzw. Rechtschreibstörungen mit Sprachentwicklungsauffälligkeiten mit 33,4 % für das Ende der Grundschulschulzeit etwas niedriger an. Weiterhin berichtet die Autorengruppe von einer Komorbidität von ca. 20 % zwischen Sprachentwicklungsauffälligkeiten und Mathematikproblemen am Ende der Grundschulzeit.

Welche Ursachen liegen Sprachentwicklungsproblemen zugrunde und welche Symptome zeigen sich?

In den letzten Jahrzehnten wurden unterschiedlichste Annahmen zu den möglichen Ursachen einer SSES formuliert. Ergebnisse der Ursachenforschung sprechen für eine genetische Komponente, da häufig mehrere Personen einer Familie von einer Sprachentwicklungsstörung betroffen sind. Als wichtigste Bedingungsfaktoren haben sich Störungen in der phonologischen Informationsverarbeitung herausgestellt (Grimm, 2003).

Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen zeigen Symptome in ganz unterschiedlichen sprachlichen Bereichen. Viele haben eine Aussprachestörungen und damit Probleme, die Laute richtig zu bilden und/oder richtig zu verstehen. Weitere Symptome einer Sprachentwicklungsstörung können den Wortschatz betreffen. Hier können sehr unterschiedliche Störungen vorliegen. So kann zum einen ein sehr geringer Wortschatz vorhanden sein, zum anderen kann das Kind die schon gelernten Wörter nicht abrufen. Manche Kinder schweigen oder suchen lange und mühsam das richtige Wort (Wortfindungsstörungen) (Glück, 2003). Eine weitere sehr häufige Auffälligkeit ist eine fehlerhafte Grammatik. Dabei sprechen Kinder im Schulalter noch so, wie man es von zwei- oder dreijährigen Kindern kennt (Grimm, 2003). Häufig nicht erkannt werden Kinder, die auf den ersten Blick normal sprechen, aber die Äußerungen der anderen Menschen nicht richtig verstehen können. Diese Kinder leiden unter einer Sprachverständnisstörung (Kannengieser, 2012).

Die beschriebenen Auffälligkeiten treten nicht bei allen Kindern in gleicher Art und Weise auf, sondern sind bei jedem sprachentwicklungsgestörten Kind in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität vorhanden.


Literatur

Dannenbauer, F.M. (1989). Ist der kindliche Dysgrammatismus grammatisch? Zu den Sprachproblemen entwicklungsdysphasischer Kinder. Die Sprachheilarbeit, 34, 151-168.

Dannenbauer, F.M. (2001a). Chancen der Frühintervention bei spezifischer Sprachentwicklungsstörung. Die Sprachheilarbeit, 46, 103-111.

Dannenbauer, F.M. (2001b). Spezifische Sprachentwicklungsstörung. In M. Grohnfeldt (Hrsg.), Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Erscheinungsformen und Störungsbilder, (Band 2, S. 48-74). Stuttgart: Kohlhammer.

Dannenbauer, F.M. (2002). Grammatik. In S. Baumgartner & I. Füssenich (Hrsg.), Sprachtherapie mit Kindern (5. Aufl., S. 105-161). München: Reinhardt.

Dilling H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (2011). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel 5 (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern: Huber.

Fromm, W., Schöler, H. & Scherer, C. (1998). Jedes vierte Kind sprachgestört? Definition, Verbreitung, Erscheinungsbild, Entwicklungsbedingungen und -voraussetzungen der Spezifischen Sprachentwicklungsstörung. In H. Schöler, W. Fromm & W. Kany (Hrsg.), Spezifische Sprachentwicklungsstörung und Sprachlernen. Erscheinungsformen, Verlauf, Folgerungen für Diagnostik und Therapie (S. 21-64). Heidelberg: Winter.

Glück, C.W. (2003). Semantisch-lexikalische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Therapieformen und ihre Wirksamkeit. Sprache Stimme Gehör. Zeitschrift für Kommunikationsstörungen, 3 (27), 125-134.

Grimm, H. (2003). Störungen der Sprachentwicklung. (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.

Häring, M., Schakib-Ekbatan, K. & Schöler, H. (1997). Zur Diagnostik und Differentialdiagnostik von Sprachentwicklungsauffälligkeiten. Die Sprachheilarbeit, 42, 221-229.

Kannengieser, S. (2012). Sprachentwicklungsstörungen. Grundlagen, Diagnostik, Therapie. (2. Aufl.). München: Urban und Fischer.

Kohn, J., Wyschkon, A., Ballaschk, K., Ihle, W. & Esser, G. (2013). Verlauf von Umschriebenen Entwicklungsstörungen: Eine 30-Monats-Follow-up-Studie. Lernen und Lernstörungen, 2 (2), 77-89.

Suchodoletz, W. von (2003). Umschriebene Sprachentwicklungsstörungen. Monatsschrift Kinderheilkunde, 151, 31–37.

Suchodoletz, W. von (2008). Sprech- und Sprachstörungen. In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der klinischen Kinderpsychologie (6. Aufl., S. 223-237). Göttingen: Hogrefe.

Suchodoletz, W. v. (2013). Sprech- und Sprachstörungen. Göttingen: Hogrefe.

Tomblin, J.B., Smith, E. & Zhang, X. (1997). Epidemiology of specific language impairment. Prenatal and perinatal risk factors. Journal of Communication Disorders, 30, 325-342.

Tomblin, J. B., Zhang, X., Buckwalter, P. & Catts, H. (2000). The association of reading disability, behavioral disorders, and language impairment among second-grade children. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 41, 473–482.

Weindrich, D., Jennen-Steinmetz, C., Laucht, M., Esser, G. & Schmidt, M. H. (2000). Epidemiology and prognosis of specific disorders of language and scholastic skills. European Child & Adolescent Psychiatry, 9, 168-194.