Wer erhält Förderung?

Grundsätzlich werden im RIM alle Kinder von Anfang an in der Entwicklung ihrer schriftsprachlichen Fähigkeiten unterstützt und gefördert. Besondere Aufmerksamkeit erhalten die Schülerinnen und Schüler, die bereits sehr früh Schwierigkeiten im Lesen- und Schreibenlernen zeigen. Das sind Kinder, die

  • nicht über ausreichende Vorläuferfähigkeiten für den erfolgreichen Schriftspracherwerb verfügen,
  • bis zur Einschulung wenig oder gar keinen Zugang zur Schrift hatten und die Funktionen von Schrift nicht kennen,
  • Auffälligkeiten in ihrer lautsprachlichen Entwicklung zeigen,
  • Buchstaben und ihre Lautwerte zu langsam und lückenhaft erlernen,
  • Schwierigkeiten im Zergliedern von Lauten (Analyse) oder Verschleifen von Lauten (Synthese) haben,
  • im Vergleich zu ihren Klassenkameradinnen und -kameraden viel später mit dem Wortlesen beginnen, dabei Buchstaben vertauschen, weglassen oder hinzufügen,
  • ähnliche Probleme wie im Leselernprozess im Schreiblernprozess zeigen (keine korrekten Laut-Buchstaben-Zuordnungen, übermäßig lange Phase rudimentärer Schreibungen, Vertauschen, Weglassen oder Hinzufügen von Buchstaben).

Die angeführten Merkmale sind typisch für Kinder mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. In der Literatur finden sich unterschiedliche Begriffe für Schwierigkeiten im Lese- und Rechtschreiberwerb. International anerkannt ist der Begriff der „Legasthenie“ als Teilleistungsstörung (d. h., nur die Lese- und/oder Rechtschreibleistung ist beeinträchtigt), die sich in allen Schriftsprachen finden lässt (Grimm, 2011). Eine „Lese-Rechtschreibstörung“ (LRS) ist in internationalen medizinischen und psychologischen Klassifikationssystemen den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten zugeordnet. Der Begriff der umschriebenen Entwicklungsstörung beinhaltet, dass weder eine angeborene noch eine erworbene Erkrankung die Schwierigkeiten des Kindes erklären können (ICD-10; Dilling, Mombour & Schmidt, 2007).

In vielen Bundesländern erfolgt die Förderung bei LRS auf der Grundlage der sog. Diskrepanzdefinition. Sie besagt, dass die formale Anerkennung einer LRS und damit das Freigeben von Förderressourcen erst dann stattfinden, wenn die Lese- und Rechtschreibleistungen des Kindes vor dem Hintergrund seines Lebensalters, seiner Intelligenz und der Beschulungssituation weit unter dem erwarteten Niveau liegen. Problematisch an der Diskrepanzdefinition ist, dass Kinder, die gleichzeitig Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und eine geminderte Intelligenz aufweisen, keine frühzeitige Förderung und andere Hilfen (Nachteilsausgleich, Zensurenbefreiung) erhalten.

Wie viele Kinder haben Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens?

Ausgehend von der Diskrepanzdefinition sind ca. 4 bis 8 % (von Suchodoletz, 2008; Breitenbach & Weiland, 2010) bzw. 4 bis12 % (Grimm, 2011) der Kinder einer Altersgruppe in Deutschland von einer LRS betroffen. Dem gegenüber stehen 24 % der Jugendlichen in Deutschland, die nach den Ergebnissen der ersten PISA-Studie 2000 zur Lesekompetenz nur auf einem elementaren Niveau lesen (PISA-Konsortium Deutschland, 2001). Kinder und Jugendliche mit allgemeinen Lernschwierigkeiten aufgrund geringer kognitiver Leistungen werden in einer engen Definition (Diskrepanzdefinition) nicht erfasst. Dies liegt daran, dass bei den Kindern dieser Untergruppe kein Missverhältnis zwischen den aufgrund des allgemeinen kognitiven Entwicklungsniveaus erwarteten und den tatsächlichen Leistungen besteht. Aus förderpädagogischer Sicht erscheint eine solche Einteilung nicht sinnvoll, da gezeigt werden konnte, dass sich die Kinder weder in den problemrelevanten Bereichen noch in ihrer Reaktion auf die Förderung unterscheiden (Klicpera & Gasteiger-Klicpera, 2001). Daher wird im RIM nicht zwischen lese-rechtschreibschwachen Kindern mit und ohne Abweichung ihrer schriftsprachlichen Fähigkeiten zu anderen Schulleistungen und zu ihren kognitiven Fähigkeiten unterschieden.

Wodurch sind die Probleme beim Lesen und Rechtschreiben verursacht?

Die Ursachen von LRS werden in der Literatur je nach Fachwissenschaft unterschiedlich diskutiert. Neben genetischen Ursachen, auditiven und visuellen Wahrnehmungsstörungen (Schulte-Körne, 2002) zählen aktuell auch die Qualität des Unterrichts und die Lehrkompetenz zu den relevanten Bedingungsfaktoren. Die in der Literatur beschriebenen Ursachenvorstellungen sprechen dafür, dass in der Regel mehrere Faktoren bei der Entstehung einer LRS zusammenwirken. Dazu zählen individuelle Lernvoraussetzungen beim Kind, die Unterstützung in der Familie und die Qualität der schulischen Förderung (Klicpera, Schabmann & Gasteiger-Klicpera, 2003).

Im RIM-Konzept steht der Präventionsgedanke im Vordergrund. Der Entstehung von LRS soll vorgebeugt werden. Darüber hinaus sollen die Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb gemildert und die Entwicklung von Begleit- und Folgeproblemen abgewehrt werden.


Literatur

Breitenbach, E. & Weiland, K. (2010). Förderung bei Lese-Rechtschreibschwäche. Stuttgart: Kohlhammer.

Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (2007). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel 5 (F). Klinisch diagnostische Leitlinien. Bern: Huber.

Grimm, T. (2011). Genetik der Legasthenie. Sprache Stimme Gehör. Zeitschrift für Kommunikationsstörungen, 2 (35), 91-97.

Klicpera, C. & Gasteiger-Klicpera, B. (2001). Macht Intelligenz einen Unterschied? Rechtschreiben und phonologische Fertigkeiten bei diskrepanten und nichtdiskrepanten Lese/Rechtschreibschwierigkeiten. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 29, 37-49.

Klicpera, C., Schabmann, A. & Gasteiger-Klicpera, B. (2003). Legasthenie. Modelle, Diagnose, Therapie und Förderung. München: Reinhardt.

PISA-Konsortium Deutschland (2001). PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich.

Schulte-Körne, G. (2002). Legasthenie. Zum aktuellen Stand der Ursachenforschung, der diagnostischen Methoden und der Förderkonzepte. Bochum: Winkler.

Suchodoletz, W. von (2008). Sprech- und Sprachstörungen. In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der klinischen Kinderpsychologie (6. Aufl., S. 223-237). Göttingen: Hogrefe.