Diagnostisches Vorgehen
Die Entscheidung, ob und wie das Arbeits- und Sozialverhalten eines Kindes gefördert wird, treffen die Lehrkräfte im RIM auf Grundlage eines Grobscreenings zur Einschätzung des Verhaltens (Hartke, Marten & Blumenthal, 2014). Dieses Grobscreening hilft der Lehrkraft, einzuschätzen, ob das von ihr beobachtete Verhalten einer weiteren Einschätzung und näheren Beschreibung bedarf. Diese erfolgt ggf. durch den Lehrerfragebogen „Schulische Einschätzung des Verhaltens und der Entwicklung“ (SEVE; Hartke & Vrban, 2010) bzw. „Schulische Einschätzung des Verhaltens online“ (SEVO; Hartke, Vrban & Blumenthal, 2013).
Im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung ist es häufig sehr bedeutsam, das Lern- und Arbeitsverhalten sowie die aktive Lernzeit einer Klasse bzw. einzelner Schülerinnen und Schüler direkt im Unterricht und objektiv durch systematisches Beobachten zu erfassen. Dazu werden im RIM zwei standardisierte Beobachtungsverfahren auf Förderebene I und II empfohlen: das „Münchener Aufmerksamkeitsinventar“ (MAI; Helmke & Renkl, 1992) und der „Schülerbeobachtungsbogen“ (Hartke, Blumenthal & Marten, 2014).
Auf der Grundlage der 49 sich als wirksam erwiesenen Handlungsmöglichkeiten von Hartke und Vrban (2010) erfolgt die Auswahl und Umsetzung gezielter Fördermaßnahmen, die über einen Förderzyklus von 6 bis 8 Wochen von der Lehrkraft umgesetzt werden (Förderebene II). Nach der Beendigung dieses Zeitraums schließt sich die Überprüfung der Wirksamkeit der Maßnahmen an und es wird über den weiteren Verlauf der Förderung auf Basis der Datenlage entschieden.
Bleibt eine ausreichend positive Entwicklung nach mindestens zwei vollständig durchlaufenen Förderzyklen – trotz einer Modifikation der Förderung im zweiten oder dritten Zyklus – erfolgt in der Regel parallel zur weiteren Förderung auf den Förderebenen I und II eine gezielte Diagnostik mit der Teachers Report Form (TRF; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1993) und ggf. weiteren Verfahren, um spezifische Störungsbilder differenziert zu erfassen. Durch die Auswertung der TRF und der zusätzlich eingesetzten Verfahren wird der inhaltlich notwendige Schwerpunkt der Förderung in der Förderplanung nochmals konkretisiert. Ist das Verhalten der Auswertung der TRF zufolge besonders auffällig, setzt zusätzlich eine Förderung auf der Förderebene III durch die Sonderpädagogin bzw. den Sonderpädagogen ein.
Ablauf Eingangsdiagnostik im Förderbereich Sprache
Screeningverfahren
Um über den Sprachentwicklungsstand aller Kinder Informationen zu erhalten, erfolgt in Klasse 1 ein Sprachentwicklungsscreening mit dem „Marburger Sprachverständnistest“ (MSVK; Elben & Lohaus, 2000) und dem „Münsteraner Screening“ (MÜSC; Mannhaupt, 2006). Mit dem MSVK werden die rezeptiven sprachlichen Fähigkeiten, mit dem MÜSC u. a. die Fähigkeiten zur phonologischen Informationsverarbeitung untersucht. Alternativ kann statt des MÜSC auch das Verfahren KEKS eingesetzt werden. Um die Entwicklung der produktiven sprachlichen Fähigkeiten einschätzen zu können, wird zusätzlich ein Elternfragebogen zur Anamnese der Sprachentwicklung (Mahlau, 2010a) eingesetzt. Zu Beginn der zweiten Klasse wird mit allen Kindern ein Sprachentwicklungsscreening Klasse 2 (Mahlau, in Vorb.) durchgeführt, um bisher nicht erkannte Kinder mit einem Förderbedarf im Bereich Sprache zu erfassen.
Auf der Grundlage der Screenings zu Beginn der ersten und zweiten Klasse werden die Risikokinder ermittelt, deren Ergebnisse auf eine Sprachentwicklungsstörung hinweisen. Dies ist der Fall, wenn in der ersten Klasse im MSVK ein unterdurchschnittlicher Wert von T-Wert ≤ 40 oder ein T-Wert ≤ 43 vorliegt und gleichzeitig im MÜSC mehr als zwei Risikopunkte erreicht werden und sich Auffälligkeiten im Elternfragebogen zeigen. Sollte statt des MÜSC das KEKS-Verfahren eingesetzt werden, erfolgt eine weitere Diagnostik dann, wenn im Subtest „Sprachmittel“ ein Prozentrang PR ≤ 20 vorliegt. Im „Sprachentwicklungsscreening Klasse 2“ wird bei den Kindern eine weitere Diagnostik empfohlen, die in mindestens zwei Subtests entwicklungsauffällige Ergebnisse (PR ≤ 20) aufweisen.
Qualitative Diagnostik
In einem zweiten Schritt erfolgt die differenzierte Untersuchung der potentiellen Risikokinder in Einzeluntersuchungen mit dem „Sprachstandserhebungstest für Kinder im Alter von fünf bis zehn Jahren“ (SET 5-10; Petermann, 2010), mit dem Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses (TROG-D; Fox, 2011) sowie dem Lautanalysebogen (Mahlau, 2010b). Mit dem SET 5-10 werden unterschiedliche sprachlichen Fähigkeiten von einer speziell geschulten Sonderpädagogin bzw. einem Sonderpädagogen überprüft. In Anlehnung an die diagnostischen Kriterien der ICD-10 (Dilling et al., 2011) müssen die Ergebnisse in mindestens zwei der neun linguistischen Untertests einem T-Wert ≤ 43 oder in mindestens einem Untertest einem T-Wert ≤ 40 entsprechen, um einen Förderbedarf im Bereich Sprache aufzuzeigen.
Der Lautanalysebogen (Mahlau, 2010b) wird durchgeführt, um herauszufinden, welche Laute und Lautverbindungen der deutschen Sprache ein Kind bereits beherrscht, noch nicht beherrscht und beim Erwerb welchen Lautes das Kind in nächster Zukunft therapeutisch unterstützt werden soll. Dazu benennt das Kind 180 Bilder, die alle Laute und Lautverbindungen der deutschen Sprache enthalten.
Der TROG-D (Fox, 2011) untersucht, wie gut die grammatischen Strukturen der deutschen Sprache beherrscht werden.
Darüber hinaus wird der Einsatz weiterer Diagnostikmaterialien empfohlen, z. B. der „Wortschatz- und Wortfindungstest für 6- bis 10-Jährige“ (WWT 6-10; Glück, 2011) zur Analyse grammatischer Probleme, ein Verfahren zur Diagnose grammatischer Fähigkeiten (ESGRAF-R; Motsch, 2013) oder ein Test zum Satzverstehen von Kindern (TSVK; Siegmüller, Kauschke, Minnen & Bittner, 2010).
Alle genannten Verfahren sind in der gesamten Grundschulzeit einsetzbar.
Lernfortschrittsdokumentation
Die Kinder mit einem hohen Förderbedarf im Bereich Sprache werden zu mindestens zwei Messzeitpunkten pro Schuljahr mit dem SET 5-10 (Petermann, 2010), dem TROG-D (Fox, 2011) sowie ggf. dem Lautanalysebogen (Mahlau, 2010b) untersucht, um sprachliche Entwicklungs- bzw. Lernfortschritte zu dokumentieren und um zu entscheiden, ob die Fördermaßnahmen verändert oder beendet werden sollen. Dieses Vorgehen sollte mit Materialien zur Entwicklungsverlaufsdiagnostik mittelfristig weiter verbessert werden. Da gegenwärtig leider keine hierfür konzeptionierten Verfahren für den Förderbereich Sprache in Deutschland vorliegen, sind diese erst zu entwickeln. Hieran wird in den nächsten Jahren an der Universität Rostock gearbeitet.
Literatur
Dilling H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (2011). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel 5 (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern: Huber.
Elben, C.E. & Lohaus, A. (2000). Marburger Sprachverständnistest (MSVK). Göttingen: Hogrefe.
Fox, A. (2011). TROG-D. Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses (5. Aufl.). Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag.
Glück, C.W. (2011). Wortschatz- und Wortfindungstest für 6- bis 10-Jährige, WWT 6 - 10. Göttingen: Hogrefe.
Mahlau, K. (2010a). Elternfragebogen zur Anamnese der Sprachentwicklung. Material der Universität Rostock. Zugriff am 25.09.2013. Online verfügbar unter: www.lernfortschrittsdokumentation-mv.de/pdf-lounge/multiscreen/Fragebogen.pdf.
Mahlau, K. (2010b). Lautanalysebogen. Rostock: Universität Rostock.
Mahlau, K. (in Vorb.). Sprachentwicklungsscreening Klasse 2. Ein Gruppenverfahren zur Erhebung des Sprachentwicklungsstandes.
Mannhaupt, G. (2006). Münsteraner Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (MÜSC). Berlin: Cornelsen.
Motsch, H.-J. (2013). ESGRAF-R: Modularisierte Diagnostik grammatischer Störungen – Testmanual (2. Aufl.). München: Reinhardt.
Petermann, F. (2010). Sprachstandserhebungstest für Fünf- bis Zehnjährige (SET 5-10). München: Hogrefe.
Siegmüller, J., Kauschke, C., Minnen, S. van & Bittner, D. (2010). Test zum Satzverstehen von Kindern (TSVK). Eine profilorientierte Diagnostik der Syntax. München: Urban & Fischer.