Wer erhält Förderung?

Viele Menschen berichten, sie hätten zu Zeiten ihres Schulbesuchs oft erhebliche Schwierigkeiten im Mathematikunterricht gehabt. Dieses Bild entspricht auch heutzutage dem schulischen Alltag. Allerdings erhält nicht jedes Kind mit schwachen Leistungen in Mathematik die Diagnose „Dyskalkulie“ bzw. „Rechenstörung“. Entsprechend bleibt vielen der Zugang zu spezifischen Fördermaßnahmen bzw. Nachteilsausgleichen verwehrt, was bei allen Beteiligten zu Unzufriedenheit führt. Nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation leidet nur jenes Kind unter einer Dyskalkulie, bei dem eine Beeinträchtigung der Rechenfertigkeiten im Gegensatz sowohl zur allgemeinen Intelligenz als auch zu anderen schulischen Leistungen, z. B. dem Lesen und der Rechtschreibung, vorliegt (sog. Diskrepanzkriterium).

Das Verwenden dieses Diskrepanzkriteriums zur Bestimmung von Kindern mit Rechenschwierigkeiten sowie eine daran gebundene Zuweisung von Fördermaßnahmen wurde in der Fachliteratur aus verschiedenen Gründen kritisiert (u. a. Gaidoschick, 2011; Hartke & Diehl, 2013; Krajewski, 2003; Lorenz, 2003; Moser Opitz, 2004). Zwar ist der Einfluss der Intelligenz auf die Mathematikleistung von Kindern (u. a. Helmke & Weinert, 1997; Jordan, Hanich & Kaplan, 2003; Krajewski & Schneider, 2006) unbestritten, offen bleibt jedoch die Frage, ob sich die Rechenschwierigkeiten der Kinder mit oder ohne Intelligenzminderung bzw. mit oder ohne Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten auch tatsächlich unterschiedlich äußern (Moser Opitz, 2004), sodass diejenigen Kinder ohne Diskrepanz nicht von Unterstützungsangeboten profitieren würden. Die Forschung hat gezeigt, dass die mathematische Entwicklung bei Kindern mit Schwierigkeiten beim Rechnenlernen, wenn auch verzögert, grundlegend derer normgerecht entwickelter Kinder gleicht (u. a. Brown, Askew, Hodgen, Rhodes & William, 2003; Lorenz & Raddatz, 2003; Werner, 2007). Gaidoschick (2011) stellt berechtigterweise die Frage: „Verdient denn ein Kind, das nicht nur im Rechnen, sondern auch beim Lesen Probleme hat, weniger Förderung in Mathematik als jenes, welches dem ‚Diskrepanz-Kriterium‘ genügt?“ (S. 12). Es erscheint unverständlich, warum Schülerinnen und Schüler mit schwachen Leistungen in Mathematik und einer geringen kognitiven Leistungsfähigkeit nicht spezifisch gefördert werden und/oder einen Nachteilsausgleich erhalten sollten – die Förderungschancen stehen schließlich für alle Kinder gut. Lorenz (2003) postuliert in diesem Zusammenhang: „Es erscheint hingegen sinnvoller, all jene Kinder in die Förderung aufzunehmen, deren Lernfortschritte, durch welche Gründe auch immer, als unzureichend angesehen werden“ (S. 15). Dieser Auffassung wird im Konzept des Rügener Inklusionsmodells aufgrund der angeführten Forschungsergebnisse und Argumente entsprochen.

Wie viele Kinder haben Schwierigkeiten beim Rechnenlernen?

Die Frage nach der Häufigkeit von zu behandelnden Schwierigkeiten im Fach Mathematik ist nicht eindeutig zu beantworten. Je nachdem, wie man das Phänomen der Rechenschwierigkeiten beschreibt (mit oder ohne Diskrepanzkriterium), ergeben sich verschiedene Angaben zur Häufigkeit des Auftretens.

  • Bezieht man sich lediglich auf die Kinder mit Rechenschwierigkeiten bei normaler Intelligenz und normalen Schulleistungen (mit Diskrepanzkriterium), ist international von etwa 1,3 % (Lewis, Hitch & Walker, 1994) bis 6,6 % (Hein, Bzufka & Neumärker, 2000) aller Kinder auszugehen. Von Aster et al. (2007) geben für den deutschsprachigen Raum eine Prävalenz von 4 % bis 7 % für Rechenstörungen im Kindesalter im Sinne der ICD-10 an. Dabei wird jedoch eine beachtliche Anzahl an Kindern ausgeschlossen, die dennoch Schwierigkeiten beim Rechnen haben.
  • Wird auf das Diskrepanzkriterium verzichtet, spricht die Forschung von einem Anteil betroffener Kinder von etwa 7 % bis 13 % (Schipper, 2003; Jacobs & Petermann, 2007).
  • Analysiert man die PISA-Ergebnisse der deutschen Schülerinnen und Schüler der letzten 15 Jahre genauer, wird deutlich, dass sogar etwa 19 % bis 24 % aller Jugendlichen deutliche Schwierigkeiten im mathematischen Feld aufweisen (Klieme, Neubrand & Lüdke, 2001; OECD, 2010). Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt die IGLU-Studie (Bos, Lankes, Prenzel, Schwippert, Walther & Valtin, 2003), nach deren Befunden fast 20 % der Schülerinnen und Schüler am Ende des vierten Grundschuljahres höchstens über die Mathematikkenntnisse von Zweitklässlerinnen und Zweitklässlern verfügen. Hasselhorn, Marx und Schneider (2005) gehen davon aus, dass ca. 20 % aller Viertklässlerinnen und Viertklässler Leistungsrückstände im Umfang von zwei Schuljahren aufweisen.

Im Rügener Inklusionsmodell wird allen Kindern mit Schwierigkeiten geholfen. In Übereinstimmung mit den einschlägigen Forschungsergebnissen ist davon auszugehen, dass etwa 20 % aller Kinder besondere Unterstützung beim Rechnenlernen bekommen müssen. Etwa 5 % haben so gravierende Probleme, dass sie sonderpädagogisch gefördert werden müssen. Durch die Förderung auf mehreren Ebenen wird im Rügener Inklusionsmodell den Unterstützungsbedürfnissen aller Kinder entsprochen.

Warum scheitern so viele Kinder beim Rechnenlernen?

Aus den einschlägigen Längsschnittstudien geht hervor, dass der Entwicklungsverlauf mathematischer Leistungen stabil ist (Aunola, Leskinen, Lerkkanen & Nurmi, 2004; Fritz et al., 2007; Krajewski, 2003; Krajewski & Schneider, 2006; Peard, 2004; Weißhaupt, Peucker & Wirtz, 2006). Kinder, denen das Rechnenlernen bereits bei Schuleintritt Schwierigkeiten bereitet, werden demzufolge mit hoher Wahrscheinlichkeit im weiteren Verlauf der Grundschulzeit noch größere Probleme in Mathematik bekommen (Aunola et al., 2004; Becker, Lüdtke, Trautwein & Baumert, 2006; Gaupp, Zoelch & Schumann-Hengsteler, 2004). Dieses Phänomen wird in der Fachliteratur als Schereneffekt bezeichnet (Becker et al., 2006). Zu erklären ist es mit dem kumulativen Aufbau mathematischer Kompetenzen: Das Rechnenlernen ist ein Prozess von systematisch aufeinander aufbauenden Entwicklungsstufen, mit denen jeweils zentrale mathematische Einsichten und Konzepte verbunden sind (Fritz, Ricken & Gerlach, 2007; Krajewski, 2003; Krajewski & Schneider, 2006). Wenn wesentliche Entwicklungsschritte nicht gemacht werden, können, einfach ausgedrückt, die nachfolgenden auch nicht gelingen, oder die Entwicklung ist einfach langsamer – der Lernrückstand wächst weiter. All diesen Schülerinnen und Schülern müssen frühzeitig zusätzlich spezifische Angebote zur Verfügung gestellt werden, welche die kindliche Entwicklung im mathematischen Bereich gezielt unterstützen. Die Hoffnung, dass sich die Schwierigkeiten des Kindes ohne äußeres Zutun „verwachsen“, ist unbegründet und es ist unbedingt Abstand davon zu nehmen.


Literatur

Aster, M. von, Schweiter, M. & Weinhold Zulauf, M. (2007). Rechenstörungen bei Kindern. Vorläufer, Prävalenz und psychische Symptome. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 39, 85-96.

Aunola, K., Leskinen, E., Lerkkanen, M.-K. & Nurmi, J.-E. (2004). Developmental Dynamics of Math Performance from Preschool to Grade 2. Journal of Educational Psychology, 96 (4), 699-713.

Becker, M., Lüdtke, O., Trautwein, U. & Baumert, J. (2006). Leistungszuwachs in Mathematik. Evidenz für einen Schereneffekt im mehrgliedrigen Schulsystem? Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 20, 233-242.

Bos, W., Lankes, E.M., Prenzel, M., Schwippert, K., Walther, G. & Valtin, R. (Hrsg). (2003). Erste Ergebnisse aus IGLU. Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann.

Brown, M., Askew, M., Hodgen, J., Rhodes, V. & William, D. (2003). Individual and cohort progression in learning numeracy ages 5-11: results from the Leverhulme 5-year-longitudinal study. In F. Lin & J. Guo (Hrsg.), Proceedings of the International Conference on Science and Mathematics Learning (S. 81-109). Taipei: National Taiwan Normal University.

Fritz, A., Ricken, G. & Gerlach, M. (2007). Kalkulie. Handreichung zur Durchführung einer Diagnose. Berlin: Cornelsen.

Gaidoschick, M. (2011). Rechenschwäche – Dyskalkulie. Eine unterrichtspraktische Einführung für LehrerInnen und Eltern (6. Aufl.). Hamburg: Persen.

Gaupp, N., Zoelch, C. & Schumann-Hengsteler, R. (2004). Defizite numerischer Basiskompetenzen bei rechenschwachen Kindern der 3. und 4. Klassenstufe. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 18 (1), 31-42.

Hartke, B. & Diehl, K. (2013). Schulische Prävention im Bereich Lernen. Problemlösungen mit dem RTI-Ansatz. Stuttgart: Kohlhammer.

Hasselhorn, M., Marx, H. & Schneider, W. (2005). Diagnostik von Mathematikleistungen. Jahrbuch der pädagogisch-psychologischen Diagnostik (Tests und Trends N. F., Bd. 4.). Göttingen: Hogrefe.

Hein, J., Bzufka, M. & Neumärker, K.-J. (2000). The specific disorder of arithmetical skills. Prevalence studies in a rural and an urban population sample and their clinico-neuropsychological validation. European Child & Adolescent Psychiatry, 33, 187-101.

Helmke, A. & Weinert, F.E. (1997). Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen. In F.E. Weinert (Hrsg.), Psychologie des Unterrichts und der Schule (Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich D, Serie 1, Bd. 3, S. 71-176). Göttingen: Hogrefe.

Jacobs, C. & Petermann, F. (2007). Rechenstörungen. Göttingen: Hogrefe Verlag.

Jordan, N., Hanich, L. & Kaplan, D. (2003). Arithmetic fact mastery in young children: A longitudinal investigation. Journal Experimental Child Psychology, 85, 103-119.

Klieme, E., Neubrand, M. & Lüdke, O. (2001). Mathematische Grundbildung: Textkonzeption und Ergebnisse. In J. Baumert, E. Klieme, M. Neubrand, M. Prenzel, U. Schiefele, W. Schneider et al., (Hrsg.), PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich (S. 141-191). Opladen: Leske + Budrich.

Krajewski, K. & Schneider, W. (2006). Mathematische Vorläuferfertigkeiten im Vorschulalter und ihre Vorhersagekraft für die Mathematikleistungen bis zum Ende der Grundschulzeit.Psychologie in Erziehung und Unterricht, 53, 246-262.

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Lewis, C., Hitch, G.J. & Walker, P. (1994). The Prevalence of Specific Arithmetic Difficulties and Specific Reading Difficulties in 9- to 10-year-old Boys and Girls. J Child Psychol & Psychiat, 35 (2), 283-292.

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Moser Opitz, E. (2004). Dyskalkulie: Krankheit, Erfindung, Mythos, Etikett … ? Auseinander-setzung mit einem geläufigen, aber ungeklärten Begriff. Vierteljahreszeitschrift für Heil-pädagogik und ihre Nachbargebiete, 72, 179–190.

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Peard, R. (2004). School Mathematical Achievement as a Predictor of Success in a First Year University Mathematics Foundation Unit. In I. Putt (Hrsg.), Mathematics Education Research Group of Australasia 27th Conference Proceedings (S. 422-429). Townsville: Mathematics Education Research Group of Australasia.

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Weißhaupt, S., Peucker, S. & Wirtz, M. (2006). Diagnose mathematischen Vorwissens im Vorschulalter und Vorhersage von Rechenleistungen und Rechenschwierigkeiten in der Grundschule. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 53, 236-245.

Werner, B. (2007). Diagnose und Förderung im Bereich der Zahlbegriffsentwicklung. In J. Walter & F.B. Wember (Hrsg.), Sonderpädagogik des Lernens. Handbuch Sonderpädagogik (Bd. 2, S. 571-590). Göttingen: Hogrefe.